Geländeplan

Zeitspuren

Alltag und Arbeit

Alltag und Arbeit

Ankunft und Alltag im Hauptlager

Die SS empfing neue Häftlinge mit besonderer Brutalität, um sie sofort bei der Ankunft seelisch zu brechen und zu demoralisieren. Das Leben im Lager wurde durch viele kaum einhaltbare Vorschriften bestimmt. Bei Verstößen drohten nicht nur die offi­ziellen Lagerstrafen wie Torstehen, Prügelstrafe und Arrest, sondern willkürliche Misshandlungen durch SS-Aufseher und Blockälteste. Mangelhafte Ernährung und Kleidung führten bei den meisten Häftlingen schnell zum körperlichen Verfall. Die überfüllten Unterkünfte boten keine Privatsphäre und keine Erholung. Wegen der vielen Durchfallkranken und der mangelhaften Hygiene herrschte in den Unterkünften oft ein furchtbarer Gestank.

Ankunft und Aufnahme ins Lager

3.1

Bei der Ankunft demonstrierte die SS mit Prügeln und Schi­ka­nen, was die neuen Häftlinge zu erwarten hatten. Oft mussten sie lange auf dem Appellplatz stillstehen. Ein SS-Führer hielt eine Begrüßungsansprache voller Strafdrohungen. Dann wurden die Häftlinge zur Effektenkammer getrieben, um Kleidung und sonstige Habe abzugeben. Es folgten das Duschen, die Desinfek­tion und das besonders demütigende Scheren der Kopf- und Schamhaare. Anschließend erhielten die Häftlinge KZ-Kleidung und eine Nummer, die daran angenäht werden musste, sowie eine Blechmarke mit der Nummer, die mit einer Schnur um den Hals zu tragen war. Statt mit Namen wurden sie nun nur noch mit der Nummer aufgerufen. An einem der ersten Tage wurden sie, häufig unter weiteren Misshandlungen, in der Politischen Abteilung verhört. Ab 1942 blieben Neuankömmlinge meist einige Tage in Quarantäne.


Tagesablauf

3.2

Die Häftlinge wurden vor Tagesanbruch geweckt. Obwohl großes Gedränge herrschte, musste jeder Häftling sich innerhalb etwa einer halben Stunde waschen, das „Bett bauen“ und den Ersatzkaffee oder eine warme Brühe zu sich nehmen. Nach dem Morgenappell wurden die Kommandos eingeteilt.
Den ganzen Tag wurde gearbeitet. Mittags gab es eine Pause für die Suppenausgabe. Die Arbeitszeit betrug zehn bis zwölf Stunden, in den Wintermonaten etwas weniger. Nach dem Abendappell folgte das Abendessen. Um 21 Uhr begann die kurze, wenig erholsame Nachtruhe. Seit 1943 wurde sie immer häufiger durch Fliegeralarme unterbrochen, bei denen die Häftlinge im Dunkeln unter Prügeln in die Keller der neu errichteten Klinkergebäude laufen mussten. In der knappen Freizeit abends und sonntags versuchten sie, ihre Kleidung zu säubern, Mithäftlinge zu treffen und Tauschgeschäfte durchzuführen.


Gewalt und Strafen - die Macht der Funktionshäftlinge

3.2

Gewalt war das wichtigste Herrschafts- und Terrormittel der SS im Lager. Befehle wurden mit dem Schlagstock erteilt. Der offizielle Strafkatalog umfasste unter anderem Strafarbeit in der Freizeit, Postverbot, Paketsperre, Strafstehen am Tor, Essens­entzug, Versetzung in die Strafkompanie, Arrest im „Bunker“, Prügelstrafe, Pfahlhängen (bis 1942) und Exekution (ab 1942). Außerdem konnte jeder SS-Aufseher nach Gutdünken strafen. Auch viele Funktionshäftlinge setzten ihre Anordnungen mit Schlägen durch, um ihre Position gegen­über der SS zu behaupten.
Während einfache Häftlinge jeden Tag um ihr Überleben kämpfen mussten, konnten sich wichtige Funktionshäftlinge gute Verpflegung, saubere Kleidung und manchmal sogar persönliche Bedienstete leisten. Einige nutzten ihre Macht­stellung dazu aus, Lebensmittel aus Paketen von Mithäftlingen oder sexuelle Kontakte zu erpressen.


Ernährung und Hunger

3.3

Die Verpflegung war so ungenügend, dass sehr viele Häftlinge innerhalb weniger Monate zugrunde gingen. Der Hunger beherrschte das Denken und Verhalten den ganzen Tag über. Morgens gab es einen halben Liter wässrigen Ersatzkaffee, mittags etwa einen Liter dünne Suppe und abends ein Stück Kommissbrot mit Wurst oder Käse von schlechter Qualität. Die Brotration („Kuhle“) wurde bis Kriegsende immer weiter verringert. In einigen Kommandos gab es 1943/44 zwei Scheiben als „Zulage“. Die Häftlinge litten unter Eiweiß-, Fett- und Vitaminmangel. Viele versuchten, sich illegal Nahrung zu beschaffen. In der Kantine konnte nur einkaufen, wer Geld von zu Hause erhielt oder (ab 1943) Prämien bei der Arbeit bekam. Viele Gefangene überlebten nur, weil sie Lebens­mittel­pakete von ihren Angehörigen oder vom Roten Kreuz erhielten.


Kleidung

3.3

Als Kleidung trugen die Gefangenen zunächst ausschließlich die blau-weiß gestreiften Einheitsanzüge aus minderwertigen Stoffen wie Zellwolle. Die Schuhe waren primitiv, meist aus Stoff- oder Lederresten mit Holzsohlen gefertigt. An Jacke und Hose waren neben der Nummer die farbigen Dreiecke („Winkel“) aufgenäht. Ab 1943 wurde immer mehr Zivilkleidung, z. T. aus den Vernichtungslagern, an die Häftlinge verteilt. Diese Kleidungsstücke mussten mit gestreiften Stoffstücken oder Kreuzen und Strichen aus greller Ölfarbe versehen werden, damit sie bei einer Flucht auffielen. Oft hatten Kleidung und Schuhe nicht die richtige Größe. Gegen Kälte und Nässe boten sie kaum Schutz. Trotz Verbots trugen manche Häftlinge alte Zementsäcke aus Papier unter der Kleidung oder versuchten, sich Textilien auf dem Schwarzmarkt im Lager zu beschaffen.


Hygiene

3.3

1940/41 verfügten die Blocks nur über Handpumpen. Auch nach Fertigstellung der Kanalisation 1941 blieben die sanitären Einrichtungen unzureichend. An 15 bis 20 Wasserhähnen in jedem Waschraum drängten sich die Häftlinge morgens zu Hunderten. Erst seit der Flecktyphusepidemie 1941/42 wurden die Häftlinge geschlossen in ein neu errichtetes Duschbad geführt, anfangs wöchentlich, später jedoch immer seltener und 1944/45 nur noch in besonderen Fällen (z. B. bei der Ankunft im Lager oder bei der Verlegung in ein anderes Lager). Handtücher und Seife gab es kaum. Die Unterwäsche wurde anfangs alle 14 Tage, später immer seltener gewechselt. Zur Bekämpfung von Ungeziefer wurde in den Baracken ab 1942 Zyklon B verwendet; dennoch waren Flöhe und anderes Ungeziefer verbreitet.


Exponat: Etagenbett

3.3

Unterbringung

3.3

In den Holzbaracken, jede in zwei „Blocks“ eingeteilt, schliefen die Häftlinge anfangs dicht gedrängt auf dem Boden. 1941 wurden die Baracken mit dreistöckigen Bettgestellen, Spinden, Tischen und Bänken ausgestattet. In den 50 Meter mal 8 Meter messenden Blocks waren in der Regel weit über 300, vorübergehend manchmal sogar über 600 Häftlinge zusammengepfercht. Die beiden 1943/44 errichteten Klinkergebäude umfassten je vier Blocks, die offenbar mit 500 bis 700 Häftlingen belegt wurden, „Schonungsblocks“ sogar noch höher.
Ab 1944 teilten sich regelmäßig zwei, manchmal sogar drei Gefangene eine Bettstelle. Ruhiger Schlaf war wegen der Überfüllung nicht möglich. In den Unterkünften roch es nach Schweiß und Fäkalien, weil die Waschmöglichkeiten begrenzt waren und viele Häftlinge unter Magen-Darm-Krankheiten litten. Es gab keine Privatsphäre. Bei der Verteilung der besten Schlaf­plätze galt oft das Recht des Stärkeren.


Barackenmodell

3.3

AV-Station

3.3

Die Arbeit der Häftlinge im Hauptlager

Auch die Arbeit war durch Gewalt und Schikanen geprägt. In den ersten Jahren wurden die meisten Häftlinge zu Bauarbeiten, Regulierungsarbeiten an der Dove Elbe, bei Tiefbau- und Transportaufgaben eingesetzt. Sie arbeiteten, angetrieben von prügelnden Aufsehern, von früh bis abends, gleichgültig ob es regnete, heiß war oder die Gliedmaßen erfroren. Einige Häftlinge waren als Hilfskräfte im Lagerbereich tätig. Ab 1942 trat zunehmend die Arbeit in Produktionsstätten hinzu, vor allem im Klinkerwerk, in den Rüstungsbetrieben der Firmen Jastram, Messap und Metallwerke Neuengamme (Walther-Werke) sowie in dem SS-eigenen Betrieb der Deutschen Ausrüstungs­werke (DAW).

3.4

Exponat: Karteischrank mit Karteikarten

3.4

Errichtung des Lagers

3.4

Ab Februar 1940 trafen immer neue Häftlingstransporte aus dem KZ Sachsenhausen in Neuengamme ein. Unter Leitung des ersten Kommandanten, Walter Eisfeld, wurde eine eigene Verwaltung aufgebaut. Spätestens seit Anfang Juni 1940 war Neuengamme ein selbstständiges Konzentrationslager. Die Bauarbeiten für das neue Lager begannen im April und wurden mit großem Nachdruck vorangetrieben. Am 4. Juni bezogen die KZ-Gefangenen die ersten drei Baracken. Bis Ende 1940 waren 14 Häftlingsunterkünfte, Werkstattbaracken, ein Krankenrevier, die Küche und andere Bauten sowie Umzäunung und Wachtürme fertig gestellt.
Auch das SS-Lager entstand 1940/41. Das Zuschütten der Wassergräben, die Verlegung der Kanalisation, die Befestigung des Appellplatzes und der Wege sowie die Inneneinrichtung der Baracken zogen sich noch bis zum Sommer 1941 hin.


Baukommandos

3.4

Erd-, Transport- und Bauarbeiten gehörten zu den härtesten Arbeiten der Häftlinge im Konzentrationslager Neuengamme. Die Häftlinge arbeiteten, unzureichend bekleidet und ernährt, im Freien. Sie mussten den lehmigen Boden ausheben, voll beladene Loren und Karren schieben, Planierwalzen und Transportwagen ziehen und andere schwere Tätigkeiten verrichten. Entsprechend rasch setzte der körperliche Verfall ein. Schläge waren Bestandteil des Arbeitsalltags. Sie trafen besonders häufig Gefangene, die schon geschwächt oder krank waren und daher die geforderte Arbeitsleistung nicht erbringen konnten. Bewusst wurde auf den Einsatz von Maschinen wie z. B. Baggern verzichtet. In den Bauhandwerker­kolonnen waren die Arbeitsbedingungen etwas erträglicher. Handwerker galten als Fachkräfte, deren Arbeitskraft benötigt wurde, und wurden daher weniger geschlagen.


„Kommando Elbe“

3.4

„Kommando Elbe“ war die lagerübliche Bezeichnung für den Ausbau der Dove Elbe. Der alte Elbarm sollte auf einer Strecke von etwa fünf Kilometern verbreitert und vertieft sowie durch einen Stichkanal verlängert werden, um ihn bis zum neuen Klinkerwerk schiffbar zu machen. KZ-Gefangene mussten 1940 bis 1943 das von Schwimmbaggern ausge­ho­bene Erdreich an Land verteilen und das Ufer begradigen und befestigen. Zeitweise arbeiteten dort über 1000 Häftlinge an mehreren Stellen zugleich. Sie mussten bei jedem Wetter Schwerstarbeit leisten und wurden dabei misshandelt und drangsaliert. Immer wieder wurden Häftlinge erschlagen, ertränkt und erschossen. Das „Kommando Elbe” gehörte zu den furchtbarsten Arbeits­stellen des Hauptlagers.


„Kommando Klinkerwerk“

3.4

An der Arbeit im Klinkerwerk zeigen sich beispielhaft die unterschiedlichen Ziele, die die SS mit der Zwangsarbeit in den Konzentrationslagern verband – ökonomische Rentabilität und Menschenvernichtung. Das neue Klinkerwerk war ein nach dem damaligen Stand der Technik moderner Produktions­betrieb, in dem 160 bis 180 Häftlinge an der Verarbeitung des Tons zu Ziegelsteinen arbeiteten. In den Tongruben mussten dagegen Hunderte von Häftlingen in schwerer Handarbeit Ton stechen und in Loren füllen. Andere Häftlinge hatten die Aufgabe, volle Loren zum Klinkerwerk zu schieben. Die Gleise waren schlecht befestigt. Sprang eine Lore aus den Schienen, mussten die Häftlinge sie mitsamt der Ladung unter Schlägen wieder auf die Gleise heben. Die Tätigkeiten in den Tongruben, beim Transport und im Hafen waren besonders schwere Arbeiten, bei denen viele Häftlinge zugrunde gingen.

Arbeit im Häftlingslager und im SS-Lager

3.4

Eine Tätigkeit im Häftlingslager oder im SS-Lager bedeutete oft eine höhere Überlebenschance, denn die Häftlinge waren bei Arbeiten in Gebäuden besser vor Kälte und Nässe geschützt.
Häftlinge, die in den Versorgungseinrichtungen der SS arbeiteten, z.B. in der SS-Küche, im Kaninchenstall, im SS-Garagenhof oder im Pferdestall, erhielten ausreichend zu essen, saubere Kleidung und bessere medizinische Versorgung als die meisten anderen KZ-Gefangenen. Sie wurden auch gesondert untergebracht.
Auch viele der Arbeiten im Häftlingslager waren körperlich weniger anstrengend als die Erd- und Bauarbeiten. Einige Arbeitsstellen boten die Möglichkeit, zusätzliche Lebensmittel zu organisieren.


Rüstungsbetriebe

3.4

Die stärkere Einbindung der Konzentrationslager in die Wirt­schaft führte ab 1942 zur Ansiedlung privater Rüstungsbetriebe beim KZ Neuengamme. Die Unternehmen mussten für die Häftlingsarbeit Entgelt zahlen und forderten daher geeignete Arbeitskräfte. Dies führte zum Teil zu einer leichten Verbes­serung der Ernährung durch „Brotzulagen“. Auch willkürliches Prügeln während der Arbeit war mit dem Produktionsablauf nicht zu vereinbaren. Die Betriebsleitungen von Messap und Jastram erreichten, dass die Häftlinge nicht mehr von SS-Leuten, sondern von zivilen Firmenangehörigen beaufsichtigt wurden. Schwere Misshandlungen und körperliche Überanstrengung bei der Arbeit blieben so die Ausnahme. In den Rüstungsbetrieben mussten die Häftlinge Produktions­normen erfüllen, sonst drohten Bestrafung und Versetzung in eines der gefürchteten Erd- und Tiefbaukommandos.


Außenkommandos

3.4

Verschiedene kleinere Arbeitskommandos waren außerhalb des Lagers in der näheren Umgebung des Konzentrationslagers tätig. Sie mussten auf Bauernhöfen oder in Betrieben arbeiten, die das KZ belieferten. Häufig wurden zu diesen Tätigkeiten Zeugen Jehovas eingesetzt, weil sie die Flucht aus Glaubens­gründen ablehnten.
In der Stadt Hamburg mussten Häftlinge 1941 z. B. im Stadt­park und später in der Gartenanlage „Planten un Blomen“ Hilfs­­arbeiten verrichten. Nach Luftangriffen wurden KZ-Gefangene zur Trümmerbeseitigung und zum Bombenräumen gezwungen, wobei sie gelegentlich Lebensmittel finden konnten. Auch wurden sie unter den Blicken der Zivilbevölkerung seltener geschlagen. Bei der Explosion von Blindgängern fanden immer wieder Häftlinge den Tod. In Hamburg-Oortkaten mussten 1000 Häftlinge im Herbst 1944 unter furchtbaren Bedingungen Panzersperrgräben ausheben.


Vergünstigungen und Prämien

3.4

Wichtige Funktionshäftlinge und Facharbeiter erhielten Vergünstigungen, sie durften z. B. ihr Haar wachsen lassen. Dadurch wurde ein zentrales Element der Lagerbeherrschung, die Rangordnung der Häftlinge, für alle wahrnehmbar.
Außerdem führte die SS im Sommer 1943 ein Prämiensystem ein: Die Vergabe von „Prämienscheinen“ zum Einkauf in der Kantine, Tabakrationen und Zusatznahrung waren offiziell an die Erfüllung von Arbeitsnormen gebunden. Die höheren Überlebenschancen sollten ein Mittel des Arbeitszwanges sein. Im Lageralltag war die Vergabepraxis von Prämienscheinen und Zusatznahrung jedoch oft nicht leistungsbezogen, sondern willkürlich.
Die Prämienscheine spielten wegen des unzureichenden Nahrungsmittelangebots in der Kantine für die Versorgung der Häftlinge praktisch keine Rolle; begehrt waren vor allem die Zigaretten.

Zwangsprostitution – das Kalkül der SS

3.4

1944 deportierte die SS zwölf Frauen ins Hauptlager Neuen­gamme – als Zwangsprostituierte für privilegierte Häftlinge.
Die Möglichkeit zum Bordellbesuch galt als Statussymbol und sollte dazu beitragen, die Arbeitsmotivation der Männer zu erhöhen. Die überwiegend deutschen Frauen waren im KZ Ravensbrück dazu gezwungen oder mit dem Versprechen angeworben worden, nach einem halben Jahr Tätigkeit entlassen zu werden – was in keinem Fall geschah. Sie wurden in einer Baracke hinter den Krankenrevieren untergebracht, deren Umzäunung sie nie verlassen durften. Von der SS wurden die Frauen verachtet. Männliche Häftlinge nahmen sie aufgrund ihrer besseren Verpflegung und Unterbringung häufig als bevorzugt wahr.


Zwangsprostitution ­– die Sicht der Frauen

3.4

Zwangsprostituierten war es aus Angst vor Stigmatisierung nach der Befreiung kaum möglich, über ihre Erlebnisse zu berichten. Scham, die Angst vor Voyeurismus, nicht selten auch Schuldgefühle begleiten sie bis heute. Aber auch viele männliche Überlebende sprechen nicht darüber aus Sorge, es könnte ein falsches Bild von der Situation im Lager entstehen. Doch gerade die Tabuisierung des Themas in der Gesellschaft hat bis heute verhindert, die Lagerbordelle als das zu sehen, was sie waren: Orte, an denen Menschen auf doppelte Weise Gewalt angetan wurde – als KZ-Gefangenen und als Frauen.


Die Behandlung der Kranken und Geschwächten

Die körperliche Auszehrung führte zu zahlreichen Krankheiten. Es war für die Häftlinge jedoch schwierig, im Krankenrevier Aufnahme zu finden. Selbst für Schwer­kranke und Verletzte standen zu wenige Betten und Medikamente zur Verfügung. Bis Ende 1941 durften inhaftierte Ärzte nicht im Krankenrevier arbeiten. 1942/43 musste jeder, der länger krank war, fürchten, mit Injektionen getötet zu werden. Die stark geschwächten Häftlinge, die die SS wegen Arbeitsunfähigkeit aus den Außenlagern ins Hauptlager zurückverlegte, wurden in „Schonungsblocks“ einquartiert. Dort herrschten grauenvolle Zustände und eine sehr hohe Sterblichkeit.

Krankenversorgung und medizinische Experimente

3.5

Die meisten Häftlinge litten an Magen-Darm-Erkrankungen, viele an Hungerödemen, Tuberkulose, Wundentzündungen und Verstümmelungen. Anfang 1942 musste das Lager wegen einer Flecktyphusepidemie unter Quarantäne gestellt werden. Wie ein Häftling im Krankenrevier behandelt wurde, hing von seiner Stellung im Lager ab. Für die meisten gab es kaum medizinische Hilfe. Viele Bedürftige wurden von der SS vor dem Revier abgewiesen. Medikamente waren rar. Für Verbände wurde Krepppapier benutzt. Die Betten waren oft mit mehreren Patienten belegt. Kranke mit ansteckenden Krankheiten wurden nicht ausreichend isoliert. Bis Ende 1941 durften Häftlinge, die von Beruf Arzt waren, nicht im Revier arbeiten.
SS-Ärzte führten im Revier Experimente an Häftlingen durch, unter anderem mit Tuberkulose. Manchmal konnten Kranken­pfleger besonders drangsalierte Häftlinge aber durch Aufnahme ins Krankenrevier auch schützen.


Umgang mit geschwächten Häftlingen

3.5

Die Lebens- und Arbeitsbedingungen führten dazu, dass ein großer Teil der Häftlinge sehr geschwächt war. Kranke, die sich nicht erholten, wurden in andere Lager abgeschoben oder durch Injektionen getötet. Die Mehr­zahl der „Muselmänner“ – so der Lagerausdruck für die geschwächten, nicht mehr arbeitsfähigen Häftlinge – starb an Hunger, Entkräftung und unbehandelten Erkrankungen. Ab Herbst 1944 entwickelte sich das Hauptlager immer mehr zu einem Sterbelager für die stark ansteigende Zahl der Häftlinge, die arbeitsunfähig aus den Außenlagern zurück­gebracht wurden. Schwerkranke, Sterbende und Tote lagen ohne Pflege in „Schonungsblocks“ – oft drei und mehr dicht gedrängt neben- und übereinander in einer Bettstelle.


Entlassungen

3.6

Einige Hundert Häftlinge sind aus dem Konzentrationslager Neuengamme entlassen worden. Sie mussten sich schriftlich zu absolutem Stillschweigen über ihre Erfahrungen im KZ verpflichten. Die Nichteinhaltung des Verbotes hatte die erneute KZ-Einweisung zur Folge.
Einige Häftlinge wurden in die SS-Sonderformation Dirle­wanger zur „Bewährung“ entlassen. Im Juli 1943 betraf dies 25, im November 1944 über 70 Häftlinge aus dem KZ Neuengamme. Die SS-Sonderformation war unter anderem zur Partisanen­bekämpfung und bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstands 1944 eingesetzt. Sie war durch besondere Grausam­keit bekannt. Bei Einsätzen an der Front Ende 1944 und Anfang 1945 konnten viele ehemalige Neuengammer Häftlinge flüchten. Ende April 1945 sollten etwa 380 weitere Häftlinge des KZ Neuengamme zur SS eingezogen werden.


AV-Station

3.5